„Der Hunger ist dramatisch“
Bodo von Borries ist Leiter des Bereichs Humanitäre Hilfe, Frieden und Teilhabe aller beim Verband für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) und betreibt Lobbyarbeit. Die weltweite Hungerkrise und die geringeren Mittel im Bundeshaushalt machen ihm Sorgen.
Ngo-Dialog: Was sind Ihre Aufgaben bei VENRO?
Bodo von Borries: Ich befasse mich damit, einheitliche Positionen unserer 140 Mitgliedsorganisationen gegenüber der Politik zu vertreten. Wir unterbreiten zum Beispiel Vorschläge für die Weiterentwicklung der humanitären Hilfe oder der Krisenprävention, bieten Fortbildungen für unsere Mitglieder an. In Ausnahmefällen unterstützen wir auch bei großen Krisen unsere Mitglieder, zum Beispiel in Afghanistan und der Ukraine. Wir sind da aber nicht operativ vor Ort.
Was ist typisch für Ihre Arbeit?
Klassischerweise sind es Gespräche mit Ministerien, parlamentarische Frühstücke im Bundestag und VENRO-Arbeitsgruppensitzungen. Also Lobbyarbeit und interne Abstimmung.
Aktuell wird viel von Hungerkrise gesprochen. Wie schwerwiegend stellt sich das für VENRO dar?
Das ist wirklich eine sehr schwere Krise, und es ist leider auch keine kurzfristige Krise, die man schnell wieder in den Griff bekommt. Seit 2014 gehen die Hungerzahlen kontinuierlich in die falsche Richtung. Von dem Ziel, bis 2030 den Hunger abzuschaffen, sind wir weit entfernt. Gerade die Pandemie und die immer spürbareren Wirkungen der Klimakrise verschärfen die Lage zusätzlich. In Madagaskar wurde erstmals von der UN eine Hungerkrise als vom Klimawandel verursacht anerkannt. Auch Konflikte erschweren die dramatische Situation. Äthiopien ist da ein aktuelles Beispiel, und nun kommt noch der Ukraine-Krieg dazu, der die Getreidepreise treibt. Ein giftiger Cocktail, der hier zusammenkommt.
Sie sagen: seit 2014. Das Thema ist aber erst jetzt mit der Ukrainekrise ins öffentliche Bewusstsein geraten. Woran liegt das?
Die mediale Aufmerksamkeit ist da sehr selektiv. Wir haben viele vergessene Krisen, die den Menschen nicht bekannt sind, und dafür erhalten die Hilfsorganisationen kaum Spenden. Gerade ungebundene Spenden wären da sehr wichtig, um außerhalb des medialen Fokus‘ zu helfen. Auch öffentliche Mittel sind hier besonders wichtig. Wir empfehlen, mindestens ein Viertel der Hilfen im Bereich der vergessenen Krisen zu leisten.
Welche Probleme stellen Sie noch fest?
Afghanistan ist ein Beispiel, wie politische Krisen Hilfe sehr schwierig machen. De facto kann man mit der Taliban-Regierung nicht zusammenarbeiten. Der Hunger in dem Land ist aber dramatisch.
Was empfehlen Sie Ihren Mitgliedern? In Afghanistan bleiben oder gehen?
Wir empfehlen da nichts. Die Mehrheit unserer Mitglieder will dort weiter tätig sein und die zivilgesellschaftlichen Errungenschaften wie Bildung für Mädchen oder Pressefreiheit erhalten. Das ist gerade sehr schwierig. Ein Rückzug findet nur dann statt, wenn Hilfsstrukturen vor Ort zusammenbrechen oder Partnerorganisationen nicht mehr arbeiten können. Wir arbeiten als NGO regierungsfern und versuchen, das Regime so wenig wie möglich in seinen Strukturen zu unterstützen und die Hilfe direkt fließen zu lassen.
Kann man mit Spenden überhaupt das Thema Hunger bekämpfen? Viele empfinden das ja schon wie ein Déjà-vu. Wie wichtig sind Spenden noch?
Enorm wichtig. Wir müssen aber immer mehr Geld für vorausschauende strukturelle Veränderungen ausgeben, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Das ist oft ein langer Prozess. Kurzfristige Hilfe ist daher für viele Organisationen immer noch einfacher zu organisieren und auch zu finanzieren, weil dann ja konkret Hilfsgüter beschafft werden können. Dabei kann man mit landwirtschaftlichen Anpassungen an den Klimawandel, der Stärkung lokaler Märkte und vorausschauende humanitäre Hilfe viel bessere Ergebnisse erzielen. Unmittelbare Krisenbilder lösen aber mehr Spendenbereitschaft aus. Das ist der Spagat der Internationalen Hilfe. Wir haben die Hoffnung, dass wir da bei den Spenderinnen und Spendern Veränderungen anstoßen können. Aber wenn dann eine Ukrainekrise kommt, wird natürlich unmittelbarer für das gespendet, was vor der Haustür ist. Das ist einfach sichtbarer.
Was passiert, wenn es zu dem befürchteten Spendeneinbruch zum Ende des Jahres durch die hohen Preise und die Inflation kommt? Sind Ihre Mitgliedsorganisationen dann noch handlungsfähig?
Wir hatten 2008 bei der Finanzkrise auch die Angst, dass es schlimm werden könnte. Der angekündigte Spendeneinbruch fiel dann deutlich geringer aus. Wir hoffen natürlich auch auf die Spenderinnen und Spender, die Menschen in Not und die Arbeit von Hilfsorganisationen schon immer langfristig solidarisch unterstützen.
Wie könnte man dem globalen Süden effektiver helfen, sich an die Folgen des Klimawandels anzupassen? Müssen wir Europäer da mehr tun?
Natürlich haben wir hier als ein Hauptverursacher der Klimakrise eine große Verantwortung. Deshalb fordern wir eine Diskussion um den sogenannten „Loss & Damage“. Das heißt die Anerkennung von Schäden, die in den Ländern des globalen Südens bereits entstanden sind. Das muss aber mit Investitionen verbunden sein, und das braucht ein politisches Signal.
Gibt es da eine Summe?
Seit mehreren Jahren werden 100 Milliarden Euro von den Industrieländern allein für den Klimawandelausgleich versprochen. Mir fehlt da aber die Umsetzung. Und da rede ich noch nicht von Schadensausgleich.
Sind Sie mit dem aktuellen Haushaltsentwurf der Bundesregierung für den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zufrieden?
Nein, es gibt eine Kürzung gegenüber dem laufenden Jahr. Das wird begründet mit den zusätzlichen Förderungen im Corona-Jahr. Aber die Auswirkungen der Pandemie beschäftigen uns weiterhin. Wir sind da gar nicht zufrieden. Es ist auch intransparent, wenn man Krisenmittel zur Verfügung stellt und dann unklar ist, wer darauf eigentlich Zugriff erhält. Mittelfristig ist sogar eine weitere Absenkung vorgesehen. Für strukturelle Veränderungen brauchen humanitäre Organisationen aber Planungssicherheit und nicht ein ständiges Auf und Ab. Aktionismus ist ein Fehler! Eher langsam wachsen, aber stetig. Auch die Flexibilität der Förderbedingungen müsste dringend erhöht werden. So kann die Effizienz gesteigert werden.
Ist es den Fördermittelgebern mittlerweile klar, dass die Nehmer die Standards der Hilfe definieren sollten und nicht die Geberländer?
In der Theorie schon. Es gibt internationale Standards in der humanitären Hilfe, zum Beispiel für Essensrationen oder Hygiene-Kits. Betroffene Menschen oder lokale Gemeindevertreter und Gemeindevertreterinnen sollten selber entscheiden, was Priorität und was angemessen ist. Diese Idee steht zum Beispiel hinter den Bargeldprogrammen. Schwieriger ist es etwas bei Standards für einen barrierefreien Zugang. Das kann teurer sein, aber Menschen mit Behinderungen werden selbst vor Ort in den Gemeinden bei der Erarbeitung der Standards nicht einbezogen.
Kann man gegen den Hunger investieren?
NGOs beteiligen sich an strukturellen Veränderungen auf lokaler Ebene, aber wir sind keine Investoren. NROs haben berechnet, dass weltweite Investitionen in Höhe von 40 Milliarden US-Dollar den Hunger weltweit beenden könnten.
Afrika gilt als Energieland der Zukunft wegen des hohen Anteils regenerativer Energien, die dort gewonnen werden können. Warum wird das so wenig von NGOs in den Fokus genommen?
NRO unterstützen eine dezentrale Energieversorgung. Es gibt aber wenige auf dieses Thema spezialisierte NGOs. VENRO erhält bereits Anfragen für Kooperationen von Unternehmen, die daran interessiert sind. Im staatlichen Bereich haben wir das Problem, dass eher Großprojekte gefördert werden als kleinere dezentrale. Die Förderhöhen nehmen bei den NGOs auch zu und damit die Verantwortung. Ich sehe hier das Risiko, dass NGOs mehr und mehr zu Dienstleistern werden. Das ist nicht immer hilfreich.
Wo gibt es Nachholbedarf?
Es gibt immer noch zu viele Anreize, Hilfsprojekte zu fördern, die konkrete Hilfsgüter bereitstellen, statt Projekte, die Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Das erlauben zum Teil auch die Förderrichtlinien nicht. Eine mögliche Alternative wäre es, Fonds zu schaffen, die vor Ort verwaltet und an lokale Akteure vergeben werden. Das verändert aber zugleich die Rolle der NGO im globalen Norden, die dann für das Bundesministerium nur sicherstellt, dass die Mittel richtig verwendet werden. Ihre Arbeit könnte sich dann stattdessen stärker auf politische Veränderungen fokussieren, zum Beispiel auf bessere Arbeitsbedingungen und die Einhaltung von Menschenrechtstandards. Es gibt positive Tendenzen in dieser Richtung, aber eine echte Veränderung ist da noch nicht zu sehen.
Bildquellen
- Bodo von Borries: Joerg Farys Fotografie