„Kirchensteuer ist ein Mitgliedsbeitrag!“

Wolfgang Leiser zählt zu den erfahrensten Fundraising-Experten in der evangelischen Kirche. Er leitet seit 13 Jahren das Kompetenzzentrum Fundraising in Ansbach und ist für das Fundraising der Landeskirche Bayern der zentrale Ansprechpartner. Schon seit Längerem beschäftigt er sich mit der kirchlichen Mitgliederbindung, was auch Hauptthema des Gesprächs mit Matthias Daberstiel, Herausgeber des Fundraiser-Magazins ist.

NGO-Dialog: Momentan kommen die Organisationen gut durch die Krise, die eine hohe Mitgliederbindung haben. Wie definiert Ihre Landeskirche das Thema Mitgliederbindung?

Wolfgang Leiser: Das ist für uns seit gut acht Jahren ein zentrales Thema. Wir sehen die Form der Beziehungsarbeit ganz klar als Teil des Fundraisings. Die Mitgliedschaft ist ja auch eine Gabe und unmittelbar verbunden mit der Kirchensteuer. Sinkende Mitgliederzahlen machen uns deshalb schwer zu schaffen. Wir stellen schon fest, dass die Verbindungen mit der Kirche immer loser werden. Für alle Kirchen, egal welcher Konfession, ist eine zentrale Frage der Zukunft: Wie stabilisieren wir die Mitgliedschaft und halten wir unsere Mitglieder?

Entwurzelung der Kirche nimmt wahnsinnig schnell zu.

NGO-Dialog: Wie drückt sich das in Zahlen aus?

Wolfgang Leiser: Ende 2019 gehörten in Deutschland noch 52,1 Prozent der Menschen der katholischen oder evangelischen Kirche an. Weitere 2,9 Prozent gehörten einer christlichen Kirche oder Freikirche an. Das ist ein Rückgang von über zehn Prozentpunkten in den letzten 15 Jahren. Ich befürchte, dass, wenn das so weiter geht und wir unter 50 Prozent fallen, kirchliche Sonderrechte wie das kirchliche Arbeitsrecht, der Einzug der Kirchensteuer über den Staat, Staatsleistungen oder der Status einer öffentlichen Körperschaft auf den Prüfstand kommen. Das ist nicht in Stein gemeißelt! Wenn man nicht mehr sagen kann, man ist die Mehrheit in der Gesellschaft, wird das neu diskutiert werden.


NGO-Dialog: Wie ist die Situation in Bayern?

Wolfgang Leiser: Bayern ist ja katholisch – denkt man. Dabei lag seit der ersten staatlichen Erhebung 1840 der Bevölkerungsanteil evangelischer Christen immer bei rund einem Viertel in Bayern. Bis in die 2000er Jahre, seitdem haben wir einen extremen Rückgang. Zwischen 1970 und 2004 verzeichneten wir einen Rückgang von 2,4 Prozent. Aber in den darauffolgenden 15 Jahren bis 2019 haben wir vier Prozent verloren, in weniger als der Hälfte der Zeit. Jetzt haben wir einen historisch niedrigen evangelischen Bevölkerungsanteil von 17,6 Prozent in Bayern. Die Entwurzelung nimmt wahnsinnig schnell zu.

Sinkende Mitgliederzahlen haben natürlich auch einen Einfluss auf die ökonomische Leistungsfähigkeit. Wir haben in den letzten 15 Jahren 400.000 Mitglieder verloren. Da müssen die Alarmglocken schrillen. Was besonders auffällt, ist auch, dass die Teilnahme an kirchlichen Angeboten wie Kasualien oder dem Gottesdienst stark zurückgeht. Besonders gravierend ist es bei der Teilnahme an Kindergottesdiensten, die in den letzten 15 Jahren um 50 Prozent abnahmen, die Teilnahme an Kinder- und Jugendgruppen um 44 Prozent. Da bricht uns eine ganze Generation weg.

Mitgliederbindung durch regelmäßige Informationen

NGO-Dialog: Deshalb setzt die Landeskirche auf eine zentrale Kirchenpost, um ihre Mitglieder besser zu erreichen und die Mitgliederbindung zu stärken.

Wolfgang Leiser: Ja, unter anderem. Die Idee war: Erst mal muss man in Kontakt sein, um eine Beziehung aufzubauen. Bis zur Konfirmation haben wir meistens noch Kontakt, aber danach bricht es faktisch ab. Von Allen die austreten, ist aktuell ein Drittel zwischen 20 und 30 Jahren alt. Was nicht verwunderlich ist, denn dann fängt man an zu arbeiten und bekommt es schwarz auf weiß auf dem Lohnzettel, dass diese Mitgliedschaft auch etwas kostet. Dann fragen sich sicher Viele: Was habe ich mit denen eigentlich zu tun? Und dann beginnt eine Kosten-Nutzen-Rechnung im Kopf, und wenn dann keine Argumente für die Mitgliedschaft kommen, dann steht am Ende irgendwann der Austritt.

Mit der Kirchenpost wollten wir hier zumindest positive Argumente liefern. Die Kirchenpost erfindet keine neuen Angebote, sondern weist auf Bestehendes hin und informiert über kirchliche Themen. Wir wissen aus dem Fundraising: Menschen unterstützen das, was ihnen wichtig ist, und wichtig ist einem das, wozu man einen Bezug, eine Beziehung hat. So einfach ist das.


NGO-Dialog: Wie funktioniert die Kirchenpost?

Wolfgang Leiser: Mitglieder zwischen 13 und 20 Jahren aus momentan 13 Dekanats-Bezirken mit insgesamt 700.000 Mitgliedern bekommen mindestens einmal im Jahr ein Schreiben, das thematisch auf die Lebenswelt der Jugendlichen angepasst ist. Es soll ja nicht uns, sondern den Empfängern gefallen. Außerdem nutzen wir persönliche Anlässe wie Umzüge, die Geburt eines Kindes oder den Hochzeitstag, um unsere Mitglieder zu kontaktieren. Zusätzlich bedanken wir uns für die Kirchensteuer und versenden einmal im Jahr einen Gruß zum Kirchenjahr (Reformationstag, Advent, Erntedank etc.) an alle Mitglieder ab 21 Jahren.


NGO-Dialog: Wäre da die Arbeit in den Kirchgemeinden nicht viel zielführender?

Wolfgang Leiser: Klar, wer in der Kirche sozialisiert ist, für den ist Kirche die Gemeinde, aber das trifft für viele Mitglieder gar nicht mehr zu. Das kann sogar negativ besetzt sein, weil es nicht dem eigenen Lebensentwurf entspricht. Die eigentliche Kerngemeinde, wo man sich also wirklich aktiv beteiligt, ist stabil – macht aber nur vier bis fünf Prozent der Mitglieder aus. Wir schmelzen nicht im Kern sondern von den Rändern her! Das müssen wir aufhalten. Und deshalb versuchen wir, mit der Kirchenpost die eher gemeindefernen Mitglieder abzuholen. Vor Ort haben wir ja „Komm-Strukturen“: Wer kommt der kommt, wer nicht, der nicht. Wir wollen die ansprechen, die nicht kommen. Und das sind 70 Prozent der Gemeinde.

Jugendarbeit muss passende Angebote machen

NGO-Dialog: Jugendarbeit mit Briefen hört sich etwas gewöhnungsbedürftig an.

Wolfgang Leiser: In den Jugendjahrgängen wollen wir präventiv auftreten, weshalb wir auch schon bei einem Alter von 13 Jahren anfangen. Wir denken, dass das auf jeden Fall zielgruppengerecht ist. Ein Beispiel: In Bayern muss man in jeder Schulart ein Berufspraktikum von 14 Tagen verpflichtend machen. Wir haben viele kirchliche und diakonische Einrichtungen und Berufe mit Nachwuchsmangel. Da trifft der Brief mit dem Angebot, dieses Praktikum bei uns zu machen, auf eine Nachfrage. Deswegen kommt das sehr gut an. Natürlich gibt es dafür auch eine Website mit den Angeboten. Aber der Hinweis kommt per Brief. Ich glaube auch, dass der Brief in der Online-Welt von Jugendlichen eine Besonderheit ist. Er fällt auf. E-Mail-, WhatsApp- oder andere digitale Daten haben wir sowieso nicht, aber die Adressen über das Meldewesen.


NGO-Dialog: Was haben Sie in diesem Zusammenhang bisher gelernt? Stärken Briefe die Mitgliederbindung?

Wolfgang Leiser: Man macht natürlich auch Fehler. So stellten wir fest, dass die Einladungen zu Jugendangeboten an 16-Jährige zu spät kommen. Selbst ein beigelegter Getränkegutschein in einer Jugendkirche brachte keinen Response. Da war klar, dass der Zug für dieses Angebot bei 16-Jährigen bereits abgefahren ist. Entweder, man ist da schon bei der Evangelischen Jugend oder nicht. Deshalb bieten wir jetzt den 13-Jährigen konkrete Sommerfreizeiten an. Die Klickzahlen auf der dazu passenden Internetseite haben sich seitdem verdoppelt.


NGO-Dialog: Welche Maßnahmen zur Mitgliederbindung gibt es noch?

Wolfgang Leiser: Zum Beispiel begrüßen wir Umgezogene. Ich selbst bin in Bayern, da ich hier studiert habe, insgesamt sieben Mal umgezogen und nur von einer Gemeinde wirklich begrüßt worden. Da verschenken wir ein extremes Potenzial zur Kontaktaufnahme. Und selbst, wenn dieser Mensch dann nicht zur aktiven Gemeinde kommt, nimmt sie oder er das zumindest positiv wahr. Einen Glückwunsch zur Geburt mit der Einladung zur Taufe gibt es natürlich auch. Denn bei den Taufen verzeichnen wir ebenfalls große Rückgänge.

Kirchensteuer ist de facto ein Mitgliedsbeitrag

NGO-Dialog: Und die Kirchensteuer? Wie wird die kommuniziert?

Wolfgang Leiser: Wir haben auch einen Dank für die Kirchensteuer eingeführt. Im Durchschnitt zahlt ein Mitglied rund 800 Euro Kirchensteuer pro Jahr. Da ist man bei jeder anderen Organisation im Middle-Donor-Bereich oder sogar Großspender. Aber einen Dank gab‘s bisher dafür nicht! Das war uns auch vom Fundraising her wichtig, und deshalb bedanken wir uns bei allen Kirchensteuerzahlern. Wir haben ja den Vorteil, dass wir unsere Kirchensteuer als einzige Landeskirche selbst einziehen und deshalb auch wissen, wer tatsächlich Kirchensteuern bezahlt. Diesem Dankesbrief liegt ein Flyer bei, der regionale Projekte im Dekanats-Bezirk beschreibt, die auch mit Kirchensteuermitteln finanziert wurden. So wird anschaulich nachvollziehbarer, wohin das Geld fließt.


NGO-Dialog: Die Kirchensteuer als Mitgliedsbeitrag zu definieren, ist aber eher ungewöhnlich für die Kirche. Normalerweise wird das doch als Selbstverständlichkeit betrachtet, oder?

Wolfgang Leiser: Von einer echten Steuer kann ich mich nicht freimachen. Wenn ich aber aus der Kirche austrete, bin ich die Kirchensteuer los. Das ist also nur eine Frage der Begrifflichkeit. De facto ist es ein Mitgliedsbeitrag. Man muss erklären, warum es sinnvoll und wichtig ist, in der Kirche zu sein. Wir sind am Ende der Selbstverständlichkeiten angelangt. Es ist nicht mehr normal, in der Kirche zu sein und einen finanziellen Beitrag zu leisten.


NGO-Dialog: Die meisten in kirchenleitender Verantwortung sehen das aber anders, oder?

Wolfgang Leiser: Vielleicht fehlt da manchen Entscheidern in der Kirche die Außensicht. Sehen Sie, die kommen fast alle aus den vier bis fünf Prozent der Kerngemeinde. Für die ist Kirche noch selbstverständlich! Mein Vater versteht auch nicht, warum man sich für die Kirchensteuer bedankt. Es ist normal, dass man in der Kirche ist und seinen Beitrag leistet. Aber das betrifft tatsächlich eben nur diese kleine Gruppe.

Fundraising hat mehr als eine Wirkung auf Kirchgemeinden

NGO-Dialog: Fundraising ist also auch eine Mission nach innen und außen? Wie sieht die Kirchenleitung die Maßnahmen zur Mitgliederbindung?

Wolfgang Leiser: Das sehe ich auch so. Das Fundraising ist nur ein Instrumentarium. Es kann nicht besser sein als die Organisation selbst ist. Es kann nicht langfristig etwas suggerieren, was nicht hinter der Organisation steht. Das Problem ist innen! Das Projekt Kirchenpost hat mit zwei Dekanaten begonnen, und wir haben ständig evaluiert. Eine Umfrage bei den Mitgliedern und bei den Hauptamtlichen ergab völlig unterschiedliche Wahrnehmungen dieses Projektes: 64 Prozent der Mitglieder, die mindestens drei Mal Post bekommen hatten, stuften die Kirchenpost positiv ein. Neutral sahen das 25 Prozent; nur 11 Prozent fanden es negativ. Es war also nicht mal eine Polarisierung bei dem Thema, sondern große Zustimmung.

Aber die Pfarrerinnen und Pfarrer schätzten zu 62 Prozent ein, dass die Kirchenpost nicht geeignet sei, Mitglieder fern der Kerngemeinde anzusprechen. Eine völlig andere Sichtweise, die aufzeigt, dass viele leider oft in einer „kirchlichen Filterblase“ der Kerngemeinden leben. Mission braucht es natürlich gerade bei den weniger überzeugten Mitgliedern – also den 95 Prozent!


NGO-Dialog: Wird neben der Mitgliederbindung auch die Notwendigkeit von Fundraising noch diskutiert?

Wolfgang Leiser: Nein, das hat man schon verstanden. Wenn die Kirchensteuereinnahmen stark sinken, muss man neue Quellen erschließen. Außerdem hat das Fundraising weit über die reine Mittelakquise hinaus positive Auswirkungen. Gemeinden mit Fundraising-Projekten bekommen mehr Kontakte, bilden neue Netzwerke, sind präsenter in der Öffentlichkeit, stabilisieren ihre Mitgliedschaften, schaffen eine neue Identität, das schwingt alles mit! Fundraising bewegt die Gemeinde, und das führt zu ganz wunderbaren Erfahrungen.


NGO-Dialog: Wie ist ihre persönliche Verbindung zur Fundraising-Akademie und was wünschen Sie der Akademie zum 20-jährigen Bestehen?

Wolfgang Leiser: Die Akademie hat den Aufbau unseres Fundraisings von Anfang an begleitet. Thomas Kreuzer hat auch die ersten Evaluationen noch durch zusätzliche Gutachten unterstützt, was sehr hilfreich war. Ich wünsche der Akademie, dass sie am Puls der Zeit bleibt und sich weiter so dynamisch entwickelt. Ich hoffe auch, Thomas Kreuzer behält seine positive Energie und bleibt der Akademie noch lange erhalten!

Bildquellen

  • Interview-Leiser, Wolfgang, Kirchliche Mitgliederbindung: privat
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