„Wir leben in keinem Paradies!“

Professor Doron Kiesel baut gerade in Frankfurt die Jüdische Akademie auf. Wir sprachen mit dem Erziehungswissenschaftler über den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, politische Bildung als Grundpfeiler der Demokratie und Antisemitismus in Deutschland.

Herr Professor Kiesel, Sie beschäftigen sich in der Lehrerausbildung mit dem Thema der politischen Bildung. Worum geht es dabei?

Doron Kiesel: Mein Arbeitsschwerpunkt im Moment ist die Gründung der ersten Jüdischen Akademie seit der Shoah hier in Deutschland. Da habe ich aktuell noch viele Vorbereitungen zu treffen. Als Wissenschaftler beschäftige ich mich in Kooperation mit Kollegen und Kolleginnen der Uni in Frankfurt mit der Frage, wie wir im Bereich der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen Themen wie beispielsweise die Shoa, den Nationalsozialismus oder Auschwitz und deren Konsequenzen so pädagogisch implementieren, dass das nicht einfach nur ein historisches Thema ist. Wissen Sie, was abgelegt und vorbei ist, oder einfach nur zur Kenntnis genommen wird, aber nicht mehr reflektiert, nicht verstanden wird, ist auch schnell vergessen. Oft ist das ja familiär noch immer ein Familiengeheimnis, was in irgendeiner Form wabert. Ich möchte, dass dieses Thema auch interdisziplinär gewissermaßen durch unterschiedliche Fakultäten hindurch ein Thema wird. Und daran arbeite ich.

Sie sind jetzt eingeladen worden, bei der Veranstaltung des Alumni-Vereins der Fundraising Akademie am 15. und 16. September über das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt zu sprechen. Was muss sich denn aus Ihrer Sicht in Deutschland für ein besseres Zusammenleben ändern?

Das Thema des Erinnerns ist gerade in Deutschland wieder ein hochaktuelles Thema, das unser Zusammenleben stark tangiert. Wie können Erinnerungen so dargestellt werden, dass sie auch anschlussfähig sind, auch emotional an die Wahrnehmung von Schülern und Schülerinnen, die heute mit einer Zeit konfrontiert werden, die sie ja selber gar nicht mehr kennen, aber die für unsere Demokratie hoch relevant ist. Ich beobachte mit großer Sorge, dass sich offensichtlich Millionen von Menschen entschieden haben, sich von „Erinnerungsballast“, um es mal in Anführungsstrichen zu sagen, zu trennen und lieber unter Umgehung dieser Geschichte oder deren rechtlicher Folgen sich auf ein antidemokratisches Konzept von Herrschaft und Macht zu beziehen, das eine Partei wie die AfD anstrebt. Und das ist etwas, das ich mir in diesem Land nie hätte vorstellen können, wie kurz die Halbwertzeit eines solchen Lernprozesses ist, von dem wir bis vor einigen Jahren dachten, so etwas wäre in Deutschland nie wieder möglich. Vielen ist offenbar nicht klar, dass dies ein autoritäres, faschistoides, menschenverachtendes, Minderheiten verachtendes System ist, das viele AfD-Wähler auch gerne wieder einrichten würden.

Auch rassistische, menschenverachtende Postings haben in den sozialen Medien deutlich zugenommen. Woher kommt diese Verrohung, die wir da erleben? Haben wir aus der Geschichte zu wenig gelernt?

Ich war ja zwischen 1998 und 2016 als Professor für Erziehungswissenschaften in Erfurt tätig. Und mir fiel auf, dass zum Beispiel das Thema demokratische politische Bildung auf keiner Ebene, sagen wir, in all seinen unterschiedlichen Facetten dort thematisiert oder auch als Lernkonzept der politischen Bildung etabliert worden ist. Als Professoren und Studierende waren wir da privilegiert und haben uns damit auseinandergesetzt. Aber ein Großteil der Bevölkerung hat sich überhaupt nicht mit der eigenen Geschichte, mit der der DDR und darüber hinaus auch nicht mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Insofern haben wir hier ein Doppelproblem. Ich glaube, man hoffte, dass die Zeit das schon tut oder dass die D-Mark und der Wirtschaftsaufschwung das Seine tun würde. Dem war überhaupt nicht so. Und wenn wir heute sehen, welche Zuwächse eine autoritäre politische Ideologie in den neuen Bundesländern hat, dann wird klar, dass hier versagt wurde. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich würde die nach dem Krieg einsetzende Entnazifizierung in den von den Alliierten besetzten Gebieten auch nicht als erfolgreich bezeichnen. Aber immerhin hat es Institutionen hervorgerufen, ein politisches Bewusstsein, eine gewisse Sensibilität in verschiedenen gesellschaftlichen Teilgruppen und Organisationen. Und ich habe den Eindruck, man hat so viel Kraft und Energie in den Aufbau Ost investiert, dass dabei fast vergessen worden ist, wofür man das überhaupt macht, nämlich für den Demokratieaufbau.

Aber in der ehemaligen DDR war das Thema Nationalsozialismus doch stark präsent. Auch im Unterricht.

Das ist ja auch richtig, Sie haben sicherlich in der DDR einiges über den Nationalsozialismus gehört. Was aber aus meiner Perspektive völlig fehlte, ist das Thema Antisemitismus. Das ist ein Unterschied. Die politisch Führenden der DDR haben sich überhaupt keinerlei Mühe gemacht, deren Verstrickung in den Mord an den Juden Aufmerksamkeit zu widmen. Das passte nicht in die Ideologie des Klassenkampfes zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Man hat den Mord an den Juden sehr schnell an das politische ökonomische System des Kapitalismus gebunden.

Tendenzen der Ausgrenzung erleben wir aber momentan überall auf der Welt. Als Deutscher irritiert es mich ja total, dass auch ausgerechnet in Israel so was möglich ist. Dort gibt es auch minderheitengefährdende nationalistische Politiker und den Versuch, die Demokratie zu beschädigen. Ist das also nicht nur ein rein deutsches Problem?

Der Vergleich mit Israel hinkt sehr stark, finde ich. Es gibt in Israel eine religiöse Koalition, die versucht, demokratische Spielregeln auszuhebeln. Aber seit 33 Wochen demonstriert jeden Samstagabend eine große Menschenmenge gegen diesen Versuch. Sie macht deutlich: ‘Nicht mit uns! Es gibt nur einen jüdischen Staat und der soll jüdisch und demokratisch sein. Und dass, was ihr plant, wird nicht realisiert.’ Und man muss schon sagen, es ist gelungen, bis auf eine juristisch problematische Entscheidung Schlimmeres zu verhindern. Alles, was Netanjahu und seine Compagnons angekündigt hatten, ist wegen des Drucks der Straße nicht verabschiedet worden.

Es gibt in Israel also eine Sensibilität für unsere hart errungene Demokratie, aber es gibt auch eine Entwicklung, die beunruhigend ist. Aber was mir in Deutschland im Unterschied zu Israel fehlt, sind die hunderttausenden von Menschen, die auf die Straßen gehen. Wenn Sie sich mal das Parteiprogramm der AfD anschauen und wir in Thüringen oder Sachen von einem 30-prozentigem Wahlsieg dieser Partei sprechen, dann wundere ich mich schon, dass man das so hinnimmt. So ist es auch im Nationalsozialismus gewesen. Er ist geschehen. Die Leute haben sich so eingerichtet; das kam über uns, es verlief still und schweigend. Ich finde, wir können heute sehr viel von früher lernen. Hitler ist demokratisch an die Macht gekommen, er musste gar nicht putschen. Mir fehlt der massive Widerstand gegen diese Entwicklung.

Aber es betrifft ja nicht nur Israel.

Richtig, wir stellen eben in vielen Ländern eine entsprechende Entwicklung fest, auch in Italien Spanien, unlängst in Griechenland. Sehr beunruhigend. Nur der Punkt ist: Deutschland hat eine sehr spezifische Geschichte, die in einer extrem großen Blutspur endete. Und insofern ist diese Entwicklung hier natürlich nochmal besonders problematisch. Die anderen sind nicht harmlos, aber die Deutschen kennen schon die Konsequenz dieser ideologischen Entwicklung. Es ist dokumentiert. Also müssen wir erkennen, dass das ein ähnliches Fiasko werden könnte, wenn wir das weiter so ertragen oder gar mittragen.

Es ist richtig, dass die Polarisierung in Deutschland zunimmt. Es fehlt an Diskursfähigkeit. Meinungen gelten als Standpunkte und werden dogmatisch nicht mehr diskutiert. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und wird dämonisiert. Wie kann man das aufbrechen?

Ich habe keine Lösung, nur eine Idee. Die Idee wäre in Anbetracht dieser Situation, dass sich die demokratischen Parteien im Bundestag zusammentun und tatsächlich eine groß angelegte Kampagne für demokratische Prinzipien und gegen die AfD initiieren. Eine Kampagne, die zeigt, was die AfD eigentlich für ein Gift streut, welche ideologischen Denkgebäude hier vermittelt werden und wo das hingeführt hat und wo es wieder hinführen kann. Wenn man diesen Höcke hört, dann ist das menschenverachtend par excellence. Das ist ausgrenzend. Der redet noch nicht von KZs gegenüber Juden, aber er meint die Muslime. Noch gibt es eine gewisse innere Tabuisierung, aber als nächstes werden die Juden dran sein. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland hat schon sehr früh vor dieser Bewegung und dieser Partei gewarnt. Mir fehlt es wirklich an einer heftigen Reaktion. Wenn ich dann noch höre, dass auch noch die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung gestrichen werden! Da habe ich gar kein Verständnis mehr. Finanzminister Lindners Handeln kann ich da nicht verstehen. Wie kann es sein, dass in Zeiten, in denen wir dauernd darauf verweisen, wie wichtig Aufklärung in Bezug auf Geschichte, Kampf gegen Antisemitismus oder Rechtsextremismus ist, Institutionen geschrumpft werden, die gerade dafür wichtig sind? Das passt nicht!

Die Jüdische Akademie soll genau so ein Diskurspunkt sein. Sie wollen eine Diskussion in die Gesellschaft tragen. Welche Rolle können denn auch Non-Profit-Organisationen spielen?

Non-Profit-Organisationen haben eine sehr große Bedeutung. Durch Ihre Kreativität und ihre Freiheit wird hier wirklich anders diskutiert. Hier können Diskurse geführt werden, wie sie an anderer Stelle durch politische Gegebenheiten oder durch starre Abhängigkeiten von Arbeitgebern, die bestimmte Positionen verlangen, gar nicht möglich sind. Ich freue mich deshalb auch auf die Debatte mit den Alumnis der Fundraising-Akademie.

Für mich ist die Akademiearbeit tatsächlich eine Plattform eines offenen Diskurses zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen. Es wird um interreligiöse oder religiöse Debatten zwischen Juden, Muslimen und Christen gehen, aber auch um die Frage, wie wir unsere Demokratie schützen, aufbauen und sichern. Wie gehen wir gemeinsam gegen eine rechte Gefahr vor? Wie identifizieren wir uns mit Menschen, die unsere Unterstützung benötigen und brauchen? Wie gewinnen wir auch Menschen überhaupt wieder? Und da bin ich ganz bei Ihnen: Wir müssen diskursfähig bleiben.

Jüdisches Leben wird auch in Deutschland bedroht. Wie gehen Sie damit um? Macht Ihnen das Angst?

Ich mache mir keine Illusionen. Wir leben in einem Land, in dem es Antisemitismus noch gibt, vielleicht tabuisiert, aber latent, teilweise offen vorhanden. Aber es gibt auch Andere, sonst würde ich hier nicht leben, sonst hätte ich längst dieses Land verlassen und hätte auch den Menschen, die um mich herum sind, sei es in der jüdischen Gemeinde oder in der jüdischen Gemeinschaft, dies empfohlen. Das Projekt „Deutschland und Judentum“ ist möglich.

Ich denke, die Fähigkeit, sich gegenüber diesem Spuk zu wehren, ist auch Ausdruck der Gründung der Jüdischen Akademie. Mir fehlen solche Initiativen in der Justiz und in der Politik. Mir fehlt die Stimme, die dagegen vorgeht. Aber es ist ein demokratisches Unterfutter da, was gestärkt diese Prozesse zumindest stoppen könnte. Insofern fühle ich mich nicht bedroht.

Ich gehe erhobenen Kopfes und Hauptes als Jude durch Deutschland, überall dort, wo ich bin. Mit meinen Positionen trete ich auf, vermittle sie, deute sie, mache sie auch klar, bin mehrfach eben Bürger dieses Landes, bin Jude, Israeli; ich bin Deutscher. Das heißt, in diesen verschiedenen Rollen und Haltungen habe ich auch eine Verantwortung zur Vermittlung. Wenn Du hier leben willst, musst Du dich auch darauf einlassen. Nicht nur partizipieren, sondern die Kräfte stärken, die demokratische Prinzipien hochhalten und durchsetzen wollen. Und da bin ich nicht alleine, sondern da haben wir sehr viele Partner. Aber wir haben auch Gegner. Deshalb müssen jüdische Einrichtungen durch Polizisten geschützt werden. Deshalb muss unsere Akademie mit Materialien gebaut werden, die mögliche Angriffe verhindern. Dass Juden in Deutschland 80 Jahre nach der Shoah immer noch geschützt werden müssen, ist schon bedenklich. Übrigens nicht nur gegen Rechtsextreme, auch vor Menschen, die von falschen religiösen Vorbildern aufgehetzt werden.

Wir leben in keinem Paradies. Damit gehen wir um, und diese Auseinandersetzung nehmen wir auch an. Nur alleine da zu stehen, wird nicht funktionieren. In Frankfurt gibt es ein Bündnis Römerberg, das alle demokratischen Gruppierungen vereint und gegen rechtsextreme Phänomene gemeinsam auftritt. Das hat sich bewährt. Diese Initiative macht deutlich: Hier ist die Grenze! Dieses Land nehmt ihr Rechtsradikale, Antisemiten, Faschisten uns nicht wieder weg!

Bildquellen

  • csm_kiesel: privat
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