„Die Deutschen ticken anders!“

Die Fundraising Akademie feiert in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Wir sprachen mit einem der Gründerväter, Dr. Christoph Müllerleile, jetzt im verdienten Ruhestand und damals Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmarketing, heute Deutscher Fundraising Verband, über die Gründungszeit und die aktuelle Krise der NGOs durch Corona.


NGO-Dialog: Herr Dr. Müllerleile, wie geht es Ihnen aktuell und was macht der Unruhestand?

Dr. Christoph Müllerleile: Ehrlich gesagt: Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Man hat sich ja noch so viel vorgenommen, und das will natürlich auch alles abgearbeitet sein. Da gerät man leicht in eine Spirale der Überbeschäftigung, aber das ist – glaube ich – auch mehr Müllerleile-spezifisch als typisch für meine Altersgruppe.


NGO-Dialog: Die momentane Situation zwingt uns alle nach Hause, und auch die NGOs müssen sich ganz neuen Herausforderungen in der Corona-Krise stellen. Haben Sie schon mal so etwas erlebt?

Dr. Christoph Müllerleile: Nein, so eine Existenzangst und Unsicherheit, wie es jetzt weitergeht, das gab es noch nie. Es gab sicher schon Krisen, aber deren Ende war absehbar. Aktuell kommt da aber etwas auf uns zu, was ganz neu ist.

Die Unsicherheit im Moment ist enorm!

NGO-Dialog: Viele Organisationen beklagen bereits Spendenrückgänge durch die Corona-Krise. Ist das normal?

Dr. Christoph Müllerleile: Ja, das ist ganz natürlich. Sehen Sie: Die Spende soll einen Unterschied machen. Man erwartet ja, dass sich durch die Spende auch etwas zum Besseren ändert, und das kann keine spendensammelnde Organisation derzeit wirklich versprechen. Dazu sind die unkontrollierbaren Kräfte einfach zu stark.


NGO-Dialog: Wie könnte man gegensteuern?

Dr. Christoph Müllerleile: Aktuell kommt das sehr auf die Organisationszwecke an. Vereine und Wohlfahrtsträger, die eher regional oder in Deutschland aktiv sind, haben es momentan einfacher als weltweit operierende Organisationen. Hilfe für ältere Menschen, Behinderte oder andere Betroffene der Krise lässt sich jetzt auch in konkrete Spendenzwecke fassen. Organisationen, die sich für die Rettung des Regenwaldes, auf Milderung von Kriegsfolgen und Flüchtlingselend spezialisiert haben, sind zurzeit klar im Nachteil. Die Bevölkerung denkt momentan erst mal an sich und maximal an die eigene Nachbarschaft. Die Unsicherheit ist im Augenblick enorm.

Ich glaube aber auch, dass eine gewisse Selbstbesinnung eintreten wird, wobei noch nicht klar ist, wie die aussieht, ob man die Welt jetzt vergisst oder gewahr wird, wie eng die Welt eigentlich schon zusammengerückt ist. Angesichts der Pandemie sieht man, wie eng das eigene Schicksal mit Menschen in China, Brasilien oder Italien verknüpft ist.


NGO-Dialog: Aktuell also eher eine kommunikative Aufgabe für die Gemeinnützigen?

Dr. Christoph Müllerleile: Ja, das ist richtig. Die Fundraiserinnen und Fundraiser haben da erst mal das Nachsehen. Das ist die Stunde der Öffentlichkeitsarbeit. Man muss jetzt aufklären und ein Umdenken bewirken. Wenn man das mit einer Spendenbitte verbinden würde, wäre die gleich verpufft.

Ein Glücksfall für die Fundraising Akademie

NGO-Dialog: In Ihrem langen Berufsleben haben Sie selbst einiges erlebt und bewirkt. Ein Fixpunkt war dabei die Gründung der Fundraising Akademie vor 20 Jahren. Wie kam es eigentlich dazu?

Dr. Christoph Müllerleile: Als sich 1993 die Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialmarketing, heute der Deutsche Fundraising Verband, gründete, war die Förderung der Aus- und Weiterbildung ein wichtiges Thema. Wir schauten uns dabei die Briten und Amerikaner an und waren auch beim International Fundraising Workshop, heute International Fundraising Congress, in den Niederlanden dabei. Wir beabsichtigten zunächst nur, vorhandene oder neue Lehrgänge nach US-Vorbild zu zertifizieren. Das rückte aber in den Hintergrund, weil wir schnell merkten, die Leute in Deutschland ticken anders, sie müssen anders angesprochen werden, und auch die Menschen, die sich für das Fundraising zur Verfügung stellen, sind andere als in Amerika oder Großbritannien. Wir mussten einen eigenen Weg finden als die eher marketingbeflissenen Kolleginnen und Kollegen in Übersee.


NGO-Dialog: Wie sah der aus?

Dr. Christoph Müllerleile: Da kamen einige glückliche Fügungen zusammen. Die Diakonie in Bayern hatte bereits eine Fundraiser-Ausbildung in Rothenburg ob der Tauber begonnen. Allerdings für drei Jahre berufsbegleitend, was uns zu lang erschien. Dann kamen einige Persönlichkeiten zusammen wie Matthias Krieger, Holger Baum, Hans-Jürgen Holzhauer, Holger Tremel, Dr. Marita Haibach und Lothar Schulz, die das Thema sehr stark voranbrachten. Auch die Entdeckung von Dr. Thomas Kreuzer möchte ich als Glücksfall für die spätere Fundraising Akademie bezeichnen.

Es hing viel an Personen und an der Neuorientierung des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik, das nicht nur neue Themen, sondern auch neue Mieter für sein Gebäude in Frankfurt suchte. Die Geschäftsleitung erkannte hier durchaus eine Investition in die Zukunft und beteiligte sich zusammen mit der BSM und dem Deutschen Spendenrat auch finanziell. Die Nachfrage nach professionellem Fundraising war Ende der 90er Jahre bereits groß. Die neue Akademie konnte den Absolventinnen und Absolventen eine echte Berufsperspektive geben.

Die Deutschen mussten einen eigenen Weg im Fundraising finden

NGO-Dialog: Sind wir denn dem amerikanischen oder englischen Fundraising nähergekommen oder haben wir einen eigenen Weg gefunden?

Dr. Christoph Müllerleile: Es hat sicher eine gewisse Integration und einen fachlichen Erfahrungsaustausch gegeben, aber die Lebenswirklichkeit in Deutschland ist immer noch eine andere. Auch die Macher des International Fundraising Congress haben gemerkt, dass sich Fundraising auf den verschiedenen Kontinenten unterscheidet. Die Instrumente haben sich durchaus angeglichen. Beispielsweise im Online-Fundraising oder bei Face-to-Face. Aber inhaltlich mussten wir einen ganz eigenen Stil entwickeln, der zu den Deutschen passt.


NGO-Dialog: Fundraising ist heute viel weiblicher geworden. Ein Trend, der damals noch nicht absehbar war. Oder?

Dr. Christoph Müllerleile: Ich finde das ganz gut. Frauen bringen ja viel mehr Empathie in das Fundraising ein. Das können wir Männer nicht so toll. Auch hier ist Marita Haibach eine Vorkämpferin gewesen und hat auch mit ihrem Status als ehemalige Staatssekretärin für Frauenfragen der hessischen Landesregierung einen Schub in die Szene gebracht. Insgesamt war der aber eher inhaltlich als genderspezifisch.


NGO-Dialog: Was war besonders wichtig?

Dr. Christoph Müllerleile: Einen echten Ausbildungsstandard zu setzen, der anerkannt ist, und das wäre nach amerikanischem Vorbild nicht möglich gewesen.


NGO-Dialog: Ist der nun angebotene universitäre Masterstudiengang „Fundraising“ die logische Weiterentwicklung für dieses Thema?

Dr. Christoph Müllerleile: Sicher! Ich sehe es als konsequent an, auch akademische Abschlüsse anzubieten.


NGO-Dialog: Was würden Sie denn der Akademie wünschen?

Dr. Christoph Müllerleile: Ich wünsche der Akademie, dass sie ihr hohes professionelles Niveau beibehält und das Thema Ethik dabei nicht aus den Augen lässt. Ich wünsche mir, dass sie das Image der Fundraiserinnen und Fundraiser weiter normalisiert und stärkt. Wir sind keine Außenseiter, sondern setzen uns für eine bessere Gesellschaft ein. Deshalb sind wir ein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft, das ist eine tolle Aufgabe für die Akademie. Sie sollte nur sehen, dass sie sich alle unseriöse Konkurrenz vom Leib hält, indem sie ihren Qualitätsstandard hochhält.

Bildquellen

  • Müllerleile: privat
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